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Life

Gute Balancen

14.11.2025

Stockt das innere Erleben oder geraten Menschen aus dem Lot, nimmt mit der Lebensfreude auch die Lebensqualität ab. Mentale Überforderung kann gerade bei Frauen ganz schön viele Gründe haben. Und nicht weniger – richtig gute – Gründe gibt es dann, die Selbstfürsorge nachhaltig zu aktivieren. Psychologin Melanie Robertson unterstützt derart überforderte Menschen dabei, mentale Schieflagen zu erkennen, gegenzusteuern und wieder zurück ins Lot zu finden. Mit kleinen Schritten und kleinen Zielen. „Die großen Pläne scheitern ja oft“, sagt sie.
 
Ganzheitliches Wohlbefinden 
Manchmal ist es das Gegensätzliche, das die Augen öffnet. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) lautet die Definition für mentale, psychische oder geistige Gesundheit so: „Mentale Gesundheit ist ein Zustand des Wohlbefindens, in dem eine Person ihre Fähigkeiten ausschöpfen, die normalen Lebensbelastungen bewältigen, produktiv arbeiten und einen Beitrag zu ihrer Gemeinschaft leisten kann.“ Mag der einen oder dem anderen auch das Wörtchen glücklich darin fehlen, so wurde die Definition wohl klug durchdacht und der oft federleichte, flüchtige, gewissen Umständen zu verdankende, mal kurze, mal längere und jedenfalls hochgradig individuelle Zustand des Glücks bewusst weggelassen. Trotzdem steckt das ganze Leben in dieser Definition – ein gutes Leben eben, ein mental gesundes. Das Wohlbefinden ist der Motor. Läuft er rund, können Lebensqualität und Lebensfreude das auch tun. Stottert er, stottert vieles. „Grundsätzlich umfasst der Begriff mental unser inneres Erleben, also Gedanken, Gefühle, Überzeugungen, Erinnerungen, innere Bilder, Haltungen“, erklärt Melanie Robertson. Während das Physische oft gut messbar und sichtbar ist – wie der Blutdruck beispielsweise oder die Muskelkraft –, bezieht sich das Mentale auf Prozesse, die nicht unbedingt direkt beobachtbar, dafür aber spürbar und höchst wirksam sind. Melanie Robertson ist klinische, Neuro- sowie Gesundheitspsychologin und ihr beeindruckendes Portfolio lässt auf einen sehr menschenneugierigen Menschen schließen. Ihre Arbeit reicht von akuten Kriseneinsätzen über Neuro-Rehabilitation nach Hirnverletzungen etwa oder neurologischen Erkrankungen bis hin zu Prävention in Organisationen oder auch Begleitung im Bereich von nachhaltiger und vor allem auch praktikabler Lebensstiländerung. Auf Letzteres konzentriert sich Melanie Robertson im Gesundheitszentrum Park Igls und um sich dem Mentalen zu nähern, vergleicht sie den Menschen mit einem Computer. „Der Körper ist die Hardware und die mentale Ebene die Software. Wenn die Software blockiert oder überlastet ist, dann funktioniert auch die beste Hardware nicht mehr ganz zuverlässig. Mentale Gesundheit ist nicht nur eine Zugabe, sondern eine zentrale Grundlage auch für Leistungsfähigkeit, Lebensqualität und Wohlbefinden“, sagt sie. „Wie bei einem guten Computersystem braucht es auch im psychischen Bereich eine Art Antivirusprogramm, also Strategien und Schutzmechanismen, um Schädigendes fernzuhalten und auch die eigene Stabilität zu bewahren.“
 
Doch mit der eigenen Stabilität ist das so eine Sache. Beim Gedanken an Stabilität taucht vor dem geistigen Auge sofort das Lot auf, mit dem auf einfache und doch clever die Erdanziehung nutzende Weise gemessen werden kann, ob ein Objekt lotrecht beziehungsweise senkrecht ist. Wenn nun der kluge Volksmund davon spricht, dass jemand aus dem Lot ist, ist er nicht in seiner Mitte und auch nicht stabil. Der immer individuell wackelige Zustand kann auf mentale Überforderung hinweisen. Und mentale Überforderung ist fast schon ein gewaltiges Wortpaar geworden. Es scheint an fast jeder Ecke, jedem Arbeitsplatz und in jedem Wohnzimmer zu lauern, dort eben, wo Menschen aus verschiedensten Gründen aus dem Lot geraten können. „Mentale Überforderung entsteht, wenn die Anforderungen die persönlichen Ressourcen, also die Energiereserven, und die persönlichen Möglichkeiten in dem Moment übersteigen. Wenn die Waage zwischen Belastung und Bewältigung kippt“, erklärt Melanie Robertson. „Es geht also nicht nur um objektive Belastung, sondern vor allem auch um die subjektive Bewertung.“ Was für den einen Menschen eine lockere und gut lösbare Herausforderung ist, kann für den anderen eine kaum zu stemmende Überforderung sein. In der Folge können Gefühle von Kontrollverlust, Erschöpfung, Überreiztheit oder dem Totalverlust des Überblicks aufkeimen. Wie sich eine mentale Überforderung zeigt, ist ebenso individuell wie die Auslöser. „Ein Klassiker ist das Glas, das einem runterfällt. Am einen Tag lacht man über die eigene Tollpatschigkeit und an einem anderen Tag könnte man fast in Tränen ausbrechen“, sagt die Psychologin. Dass der Volksmund mit „nervlich am Ende zu sein“ noch eine treffliche Definition für diese unangenehme geistige Situation parat hat, zeigt, dass diese Zustände wohl nicht allzu neu oder ungewöhnlich sind, sondern zum Menschsein gehören. Und als kleine oder auch größere Alarmsignale eine wichtige Rolle in den Leben spielen.
 
In seinen Körper hineinhören 
Der Körper ist ein perfekter Verbündeter, wenn es darum geht, mentale Überlastungs- oder Erschöpfungszustände zu erkennen und Alarm zu schlagen. Wer hinhört, kann sich auf dieses Warnsystem verlassen, doch ist es nicht immer leicht, die Signale als solche zu deuten. „Ganz typisch sind Schlafstörungen. Der Großteil der Schlafstörungen ist – vereinfacht gesagt – psychisch bedingt aufgrund von Belastungen oder Überlastungen“, macht Melanie Robertson darauf aufmerksam, dass dauerhafte Einschlaf- oder Durchschlafprobleme und das direkte Eintauchen in Grübeleien nach dem Aufwachen so wahr- wie ernstgenommen werden sollten. Nicht weniger Aufmerksamkeit verdienen körperliche Beschwerden wie Rücken- oder Bandscheibenprobleme, Nackenverspannungen, Infektanfälligkeiten oder psychisch bedingte Magen-Darm-Beschwerden und natürlich die psychischen Warnsignale selbst, die sich mit Gereiztheit, Konzentrationsschwierigkeiten, innere Unruhe oder Nervosität, „oft auch in Kombination mit einem Tremor, einem Zittern“, bemerkbar machen. Das Gefühl innerer Leere oder soziale Rückzugstendenzen deuten ebenso deutlich auf ein „viel zu viel“ hin – und schlagen Alarm.
 
Eine Chance für Balance 
Ist glasklar geworden, dass der Bogen überspannt wurde und zum Wohl der körperlichen wie mentalen Gesundheit eine Reißleine gezogen werden muss, stehen die Betroffenen gewissermaßen am Beginn eines neuen Lebens. Klingt nach schwerer Geburt. „Ja, der Moment ist tatsächlich oft schmerzhaft. Weil der Moment eben auch Veränderung verlangt“, beschreibt Melanie Robertson den entscheidenden Wendepunkt, „wir sind Gewohnheitstiere, ohne dass ich das jetzt abwertend meine, aber wir machen gerne das, was wir gewohnt sind. Veränderung ist oft nicht ganz so einfach. Aber genau darin steckt eigentlich auch eine große Chance.“ Ein aufmerksames Innehalten, eigene Grenzen anerkennen, Prioritäten sortieren, Belastungsfaktoren identifizieren und Unterstützung annehmen sind die ersten Herausforderungen eines mentalen Resets. Melanie Robertson: „Es sind eben oft diese kleinen Veränderungen, die im Alltag entscheidend sind – dass man sich kleine Schritte und Ziele setzt. Die großen Pläne scheitern ja oft an der Umsetzung.“
 
Für ein Jahr auf eine Insel auszubrechen oder auf eine Hütte in den Anden, mag für kurze Momente die Lösung aller Mühsalprobleme sein. Alltagstauglich sind sie nicht. Zum kleinen Einmaleins an Zielsetzungen und Maßnahmen zählen vielmehr kleine, bewusst genutzte Pausen – vielleicht verbunden mit einem Spaziergang, gesunde Routinen oder ein feiner Schlaf. „Wir schlafen heute um eineinhalb Stunden weniger als noch in den 1960er-Jahren. Eineinhalb Stunden, das ist doch eine ganz nette Menge“, stellt Melanie Robertson fest und macht auf die elektronischen Schlafräuber aufmerksam, die leicht kontrolliert oder eliminiert werden können, wenn der Wille dazu vorhanden ist.
 
Eine schwer unterschätzte Stimmungskanone – im positiven wie im negativen Sinn – ist die Ernährung. Das ist das Themengebiet, bei dem Melanie Robertson regelrecht das Herz aufgeht: „Wir können Schicksalsschläge nicht oder zumindest meistens nicht verhindern und auch anderen Krisen nur bedingt ausstellen. Aber die Ernährung ist etwas, wo wir Einfluss nehmen können, und die Ernährung spielt einfach eine viel größere Rolle für unsere psychische Gesundheit, als man lange angenommen hat.“
 
Heute ist bekannt, dass was wir essen nicht nur den Körper, sondern auch die Stimmung, die Stressregulation und sogar die kognitive Leistungsfähigkeit beeinflusst. Die so genannte Darm-Hirn-Achse ist eine faszinierende Verbindung, die psychische Gesundheit in ein ganz neues Licht setzt – nicht zuletzt, weil die Menschen die eigene Ernährung in der Hand haben und damit auch eine wirkmächtige Handhabe, um mentalen Dysbalancen vorzubeugen und die psychische Gesundheit ganz direkt und einfach zu beeinflussen. Mit der richtigen Ernährung. Melanie Robertson: „Der Darm beherbergt Milliarden von Bakterien, kleine Mitbewohner, die Botenstoffe wie Serotonin, Dopamin oder GABA produzieren, und die sind für unsere Stimmung, die Stressregulation mitverantwortlich.“ Etwa 90 Prozent des als Glückshormon bekannten Serotonins, das eine Vielzahl physischer und psychischer Funktionen steuert, befinden sich im Darm. Und nicht, wie fälschlicherweise oft angenommen wird, etwa in Schokolade. Tja.
 
Auf vielen physischen und psychischen Ebenen überraschen Herausforderungen ein Leben lang. Um sie zu meistern und auch mentale Überforderungen zu vermeiden, ist Selbstfürsorge ein passender Schlüssel. „Selbstfürsorge heißt im Grunde, gut für sich zu sorgen, um auch langfristig leistungsfähig, empathisch und beziehungsfähig zu bleiben“, betont Melanie Robertson und stellt klar: „Selbstfürsorge ist eigentlich kein Luxus, sondern eine Grundvoraussetzung für psychische und körperliche Gesundheit und vor allem auch für ein gutes Miteinander.“ Und für gute Balancen.
 

Text: Alexandra Keller
Fotos: Blickfang Photographie
 

 
Info: Dieser Text ist auch in medica – unserem Podcastmagazin für Frauengesundheit – erschienen. In den zugehörigen Podcast können Sie unter dem Reiter „medica“ heineinhören.

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