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Zukunft

Big Bang Theories

14.10.2022

Das Metaverse ist noch gar nicht richtig da, und doch wird es gekommen sein, um zu bleiben. So viel lässt sich – auch mit einem Blick auf die Geschichte des Internet – schon mit großer Gewissheit vorhersagen. Das Metaverse ist aber nicht das, was Facebook-Gründer Mark Zuckerberg unternehmen möchte, sondern weit mehr. Einer, der sich im Metaverse auf jeden Fall zurechtfindet, ist der Tiroler Matthias Lechner, der sich mit ein paar Mitstreitern aus seinem Umfeld zusammengetan hat, um mit NFBrands.X die erste Full-Service Web3 and Metaverse Agentur des Landes zu gründen. „Mir ist im vergangenen Herbst klar geworden, welchen Impact das Metaverse haben wird“, sagt Lechner. „Alle zehn bis 15 Jahre kommt ein Game Changer daher. Das Metaverse ist so einer.“

Wie das Web in 3D, nur in besser

Doch: Wofür soll das Ganze gut sein? Dazu gilt es zunächst abzustecken, was denn dieses Metaverse eigentlich ist bzw. sein will. „Es gibt nicht das eine, einzige Metaverse“, sagt Matthias Lechner, in dessen Wahrnehmung das Metaverse „die Definition aller möglichen virtuellen Welten“ ist. Eine virtuelle Parallelwelt, die – so wie das Universum – aus zahllosen Galaxien, sprich unterschiedlichen Plattformen und Anwendungen, bestehen kann. Zwischen manchen wird man mit seinem Avatar hin- und herreisen können, andere werden in sich geschlossene Systeme bleiben.

Es gibt die Fantasie, mit dem Metaverse eine Inkarnation des Internet zu verwirklichen, die „besser“ sein wird als das, was wir heute haben. „Niemand erfindet etwas, das einzig und allein der Weltverbesserung dient“, bremst Lechner diesbezüglichen Enthusiasmus. „In technischer Hinsicht wird das Metaverse sicher besser sein als alles bisher bekannte, ob es dadurch automatisch zu einem besseren Ort wird, ist zu bezweifeln. Das Hauptproblem ist der Mensch, der meist langsamer lernt, als man erwarten möchte“, meint der Experte.

The Metaverse is Cumming

Es kann sich also – könnte man wiederum mit Verweis auf die Geschichte des Internet lakonisch meinen – nur noch um Stunden handeln, bis die Pornobranche auf die Vorzüge des Metaverse aufmerksam wird. In Wahrheit ist das längst geschehen. „The metaverse is cumming, with the help of new sex tech“, feixte das Kulturmagazin Dazed bereits im Februar des Jahres. Tatsächlich gilt das eherne Gesetz „Sex Sells“ auch unumschränkt für das Metaverse. Die Pornoindustrie war auch bei anderen Technologien Vorreiter, etwa bei DVDs, Online Bulletin Boards, Chaträumen und Videochat. Angeblich kursiert unter Tech-Journalisten der Spruch, dass man, um in die Zukunft der Technologiebranche blicken zu können, man nur auf die Pornoindustrie schauen müsse. Wenn das Metaverse dazu beitragen kann, marginalisierten Personen oder grantigen Incels ein Sexleben zu verschaffen, kann das aber gesamtgesellschaftlich fast nur positiv sein. Naturgemäß hat das Ganze aber auch seine Schattenseiten, denn wo Sex ist, da ist nicht selten auch Gewalt. Es ist sogar so, dass eine Art Schutzschirm für Avatare überlegt wird, damit sich diese bzw. die Nutzer vor sexuell motivierten Übergriffen schützen können. Klingt weird, ist aber so.

Es ist allerdings nicht die Libido allein, welche die technologische Entwicklung beflügelt, sondern maßgeblich auch der Spieltrieb. Die Gaming-Industrie ist ein global zunehmend wichtiger und umsatzträchtiger Wirtschaftszweig. Spieler möchten Games zocken, die haptisches Feedback geben, die Spieleentwickler liefern. Computerspiele als Freizeitbeschäftigung haben sich dank der modernen technologischen Entwicklung enorm weiterentwickelt. Spiele wie Fortnite, Roblox, und noch früher Second Life können durchaus als Vorläufer des Metaverse, als „Proto-Metaversen“, verstanden werden. Ob es im Metaverse, ähnlich wie bei Theater und Film allerdings so etwas wie eine Willing Suspension of Disbelief – zu Deutsch schimpft sich das Konzept „Willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit“ – gibt, ist noch nicht abschließend geklärt. Die Prämisse des 1817 von Dichter und Philosophen Samuel Taylor Coleridge formulierten These geht so: Der Leser und Zuschauer – der im Metaverse auch Akteur ist – willigt ein, sich auf eine Illusion einzulassen, um dafür gut unterhalten zu werden. Realitätsnähe ist aber nicht alles. Manche Anbieter wollen absichtlich, dass ihre Metaverse-Anwendung nicht die Realität nachahmt, weil man dem User dadurch Erlebnisse bieten kann, die er in seiner Alltagsrealität nicht haben kann. Andere wollen die Welt indes genauso abbilden, wie sie ist. Dann spricht man von einem Digital Twin. Letztere sind vor allem für Geschäftsreisen eine gute Sache. Baut man sein Office für die Virtuelle Realität nach, erspart man sich theoretisch eine ganze Menge Geschäftsreisen, ohne vollends auf die Erfahrung, irgendwo gewesen zu sein, verzichten zu müssen. Man darf sich zukünftig wohl auch darauf einstellen, im Laufe seines Berufslebens irgendwann mit seinem Avatar – oder vielmehr in dessen Gestalt – virtuell bei einem Vorstellungsgespräch aufzuschlagen.

Avatar

Das Vehikel, in dem wir uns im Metaverse bewegen, das digitale Pendant zu unserer fleischlichen Hülle, ist der Avatar. „Man kann aufgrund des technologischen Fortschritts davon ausgehen, dass unsere Avatare schon in naher Zukunft fotorealistisch aussehen werden“, prophezeit Lechner. Bereits die kommende Generation der Meta-VR-Brille wird Sensoren haben, welche die Mimik mit aufzeichnen. Irgendwann werden die Devices in den Hintergrund treten und Teil unserer Umwelt werden. Ob man zukünftig mit einem anderen menschlichen Avatar oder einer Künstlichen Intelligenz (KI) interagiert, dürfte sich zunehmend schwieriger unterscheiden lassen. An dieser Stelle kommen für Matthias Lechner die Blockchain-Technologie bzw. NFTs ins Spiel, die dazu verwendet werden können, im Metaverse fast zweifelsfrei seine Identität beweisen zu können.

Der dezentralen Blockchain kommt im Metaverse große Bedeutung zu, manche sehen sie gar als Grundvoraussetzung für dessen Erfolg. Matthias Lechner neigt auch zu dieser Ansicht: „Die Blockchain ermöglicht erstmals rein virtuellen digitalen Besitz, lässt sich aber auch auf physische Waren oder eine Kombination aus beidem anwenden.“ Sogenannte Crypto Wallets, digitale Geldbörsen, die der Aufbewahrung von Kryptowährungen dienen, könnten auch dazu genutzt werden, die Dinge aufzubewahren, die man im Metaverse erworben hat. „Wer in Sachen Avatar-Erstellung die Nase vorn hat, hält einen heiligen Gral des Metaverse in Händen“, sagt Lechner nicht ganz frei von Pathos. Das leuchtet ein, schließlich will man nicht für jede genutzte Anwendung im Metaverse einen neuen Avatar erstellen, sondern seinen vorhandenen Digitalleib mitsamt dessen Garderobe im gesamten Metaverse mit sich führen. Lechner schließt daraus, dass ein Avatar für alle Fälle, der die Erfahrung eines vollständigen Virtual Embodiment – eines Gefühls, den Avatar zu „bewohnen“ – vermittelt, bereits hinreichend Anlass bieten könnte, sich im Metaverse häuslich einzurichten. Wie sehr sich der Avatar mit dem dahinterstehenden Menschen aus Fleisch und Blut deckt, bleibt letztlich dem Nutzer überlassen. Es ist vorstellbar und legitim, dass man sich gerne attraktiver, besser oder einfach nur anders machen wird als im richtigen Leben. Ironischerweise eint uns als Menschen, dass wir verschieden sein wollen. Dementsprechend wittern die großen Player in der Modewelt im expandierenden Metaverse eine Goldgrube. Avatare sollten – überwiegend jedenfalls – ja schließlich nicht nackt sein. Modelabels werden also Schlange stehen, die Avatare der Nutzer fashionable einzukleiden. Gegen einen gar nicht so kleinen Obolus selbstverständlich.

Eintauchen und (konsumierend) abschalten

Jene engagierte und idealistische Community, die derzeit die Expansion des Metaverse vorantreibt, ist erfreulicherweise sehr auf Inklusion und Willkommenskultur getrimmt. Dennoch scheint es nur eine Frage der Zeit, bis Trolle und Edgelords mit ihren Avataren die schöne neue Welt besudeln. Man darf jedoch immerhin hoffen, dass das schöne alte Konzept namens Facework im 3D-Internet der Avatare wieder an Bedeutung gewinnt. Zudem kann das Metaverse für Menschen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, ein emanzipatorischer Raum der gesellschaftlichen Teilhabe sein, an dem sie das, was sie in ihrer physischen Wirklichkeit behindert, hinter sich lassen können.

Das Metaverse ist Spiel und Ernst zugleich. Es hat kein fix definiertes Launch-Datum, sondern wird tröpfchenweise in unseren Alltag diffundieren, bis wir das Gefühl haben, dass es immer schon da gewesen ist. So ist es auch beim Internet in seinen bisherigen Versionen 1.0 und 2.0 und beim Smartphone gewesen, an das wir nur noch denken, wenn wir es gerade nicht griffbereit haben. Es wird nicht ein Ort sein, sondern viele enger und loser oder auch gar nicht miteinander verknüpfte Plattformen, auf denen gearbeitet wird und wo man auch seine Freizeit verbringen kann. Es ist noch offen, ob die schöne, neue, virtuelle Welt eine utopische Vorstellung ist oder aber ein ortloser Ort, an dem sich bestehende soziale Ungleichheiten reproduzieren und sich die Geschichte von Kolonialisierung, Kapital, Sexismus und Krieg wiederholt.

Hinweis: Der Beitrag wurde gekürzt und ist in voller Länge nebst anderen Aspekten zum Thema Metaverse in der Printausgabe zu lesen.

Text: Marian Kröll

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