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Führen durch dienen

7.7.2023

Kurt Matzler ist Professor für Strategisches Management an der Universität Innsbruck und laut Brightline Initiative einer der besten strategischen Denker der Welt. Und er ist ein ebenso leidenschaftlicher wie extremer Radfahrer. 2022 war er Solo-Finisher des Race Across America, dessen 4.880 Kilometer und 40.000 Höhenmeter er in elf Tagen, fünf Stunden und 50 Minuten zurückgelegt hat. Mit seiner Teilnahme beim RAAM sammelte sein Rotary-Team insgesamt mehr als vier Millionen Dollar an Spenden zur Ausrottung der Kinderlähmung. Kürzlich hat er dazu ein Buch veröffentlicht und nimmt die Leser darin mit in die Welt des längsten und härtesten Radrennens der Welt. Matzler erzählt von den mentalen und körperlichen Strapazen, die ihn während des Rennens begleiteten, von brütender Wüstenhitze von bis zu 50 Grad über Regen und eisige Temperaturen in den Rocky Mountains bis hin zu einem Hurricane, endlosen Geraden in den Great Plains, technischen Pannen, Schlafmangel und sogar Halluzinationen. Dabei entdeckte er interessante Parallelen zwischen Extremsport, Management und einer erfolgreichen Lebensführung. In seinem Buch zeigt er in elf Lektionen, was wir von Extremsportlern lernen können, um Spitzenleistungen in Beruf und Leben zu erzielen. Es geht dabei unter anderem um Entschlossenheit, Durchhaltevermögen und Teamwork, die Wahl der richtigen Strategie und die Macht der Gewohnheit. Wir haben mit ihm über das Thema Führung gesprochen.

eco.nova: Welche Eigenschaften machen eine Führungspersönlichkeit aus? Kurt Matzler: Die stärkste Eigenschaft von Führungspersönlichkeiten ist es, ein visionäres Zukunftsbild zu entwickeln und klare Vorstellungen zu haben, wohin man mit seinem Team und als Unternehmen im Gesamten möchte. Diese Ziele gilt es klar zu formulieren, um die Mitarbeiter entsprechend zu begeistern und zu inspirieren, um ihren Beitrag zum Unternehmenserfolg zu leisten. Zudem wird die emotionale Intelligenz zunehmend wichtiger, also die Fähigkeit, die eigenen Emotionen und die Emotionen anderer richtig zu erkennen, zu interpretieren und zu kontrollieren. Laut einer Studie von Daniel Goleman ist die emotionale Intelligenz der entscheidende Faktor, der eine starke von einer durchschnittlichen Führungskraft unterscheidet. Und eine Führungskraft braucht eine starke Entscheidungsfähigkeit, das heißt, unter Zeitdruck und teils bei unvollständigen Informationen Entscheidungen treffen zu können und dabei auch den Mut zu haben, Risiken einzugehen.

Ist jeder zur Führungskraft geeignet? Nein, nicht jeder hat die Voraussetzungen dazu. Und auch nicht jeder will eine sein. Das Dilemma in Unternehmen ist oft, dass jene Mitarbeiter befördert werden, die fachlich kompetent sind. Sie kommen dann allerdings in eine Position, in der es gänzlich andere Kompetenzen braucht. Je niedriger die Hierarchieebene, desto wichtiger ist die fachliche Kompetenz, je höher die Hierarchieebene, desto wichtiger wird die soziale und konzeptionelle Kompetenz. Daran scheitern Führungskräfte, die allein aufgrund ihres Fachwissens befördert werden, oft.

Oftmals wird lieber gar keine Entscheidung getroffen als eine falsche. Kann man Entscheidungsstärke lernen oder trainieren? Viele Punkte in Hinblick auf Entscheidungskompetenz lassen sich durchaus erlernen, die Lehre vom folgerichtigen Denken zum Beispiel, also Logik. Es gibt Entscheidungstechniken wie die Nutzwertanalyse, bei der systematisch die Vor- und Nachteile aufgelistet werden, anhand derer man versucht, zu Entscheidungen zu kommen. Oft hilft es, eine Nacht drüber zu schlafen, bevor man aus einer Emotion heraus entscheidet. Bei der Entscheidungsfindung kann es zu zahlreichen kognitiven Verzerrungen kommen – beispielsweise durch Verlustaversionen, Selbstüberschätzung oder den Confirmation Bias, das heißt, man nimmt nur jene Informationen wahr, die die eigene Meinung bestätigen. So entstehe oft eine selektive Wahrnehmung, die eine objektive Entscheidung verhindere. Ist man sich dieser Einflüsse bewusst, lässt sich die Entscheidungsfähigkeit durchaus verbessern. Das funktioniert allerdings nur bis zu einem gewissen Grad. Bei relativ einfachen, strukturierten Problemen tut man sich naturgemäß leichter, je unvollständiger die Datenlage und je komplexer das Problem, desto schwieriger. Dann geht es oft in Richtung Intuition, Abstraktionsfähigkeit und Risikobereitschaft. Das sind Dinge, die sich nicht erlernen lassen, sondern die man über die Zeit aufgrund seiner Erfahrungen entwickelt.

Ist das Bauchgefühl ein guter Ratgeber? Wir haben eine Studie dazu gemacht, die zeigt, dass etwa 50 Prozent unserer Entscheidungen aufgrund eines Bauchgefühls getroffen werden. Wichtig zu wissen ist in diesem Zusammenhang aber, dass das Bauchgefühl kein magischer sechster Sinn ist, sondern ein unterbewusstes, blitzschnelles Abrufen von enormem Erfahrungswissen. Das heißt, man kann sich auf sein Bauchgefühl nur dann verlassen, wenn man bereits viele konkrete Erfahrungen gesammelt hat. Der Fachbegriff dazu ist domänenspezifisches Wissen. Man geht dabei von rund zehn Jahren aus, in denen man in einem bestimmten Bereich Erfahrungen sammeln muss, um tatsächlich eine intuitive Fähigkeit zu entwickeln. Dieses unterbewusste Mustererkennen äußert sich dann in einem Gefühl, von dem man nicht genau sagen kann, wo es herkommt, und das uns eine konkrete Entscheidung nicht begründen lässt, man aber intuitiv weiß, dass sie richtig ist.

Ist es langfristig sinnvoller, rasche Entscheidungen zu treffen und dadurch Gefahr zu laufen, Fehler zu machen, oder sich Zeit zu lassen und dadurch eventuell zu langsam zu reagieren? Ich halte weder das eine noch das andere allgemein für besser oder schlechter. Was wir tatsächlich sehen, ist, dass es eine Tendenz hin zum schnellen Entscheiden gibt. Planung scheint etwas aus der Mode zu kommen. Alles ist mittlerweile so schnelllebig geworden, dass sich die Rahmenbedingungen während der Umsetzung der Pläne oft schon wieder verändert haben. Im Zuge dessen ist auch ein klarer Trend zum Experimentieren erkennbar – dahingehend, dass man den Ansatz verfolgt, mit einem Produkt schnell auf den Markt zu kommen und entsprechend rasches Feedback zu bekommen, um aus Fehlern zu lernen, anstatt es bis zum Ende zu entwickeln und dann draufzukommen, dass man eigentlich am Markt vorbeiüberlegt hat. In der Innovation spricht man vom Minimal Viable Product, dem minimal funktionsfähigen Produkt, das anhand von Kundenfeedback entsprechend weiterentwickelt wird. Der Trend zu schnelleren Entscheidungen und mehr Risikobereitschaft ist durchaus da, generell würde ich es aber nicht so stehen lassen wollen, dass das immer der bessere Zugang ist.

Welche Rolle spielt das Mindset des Managements für den Erfolg und die Innovationsfähigkeit von Unternehmen? Mindset ist im Grunde nichts anderes als das mentale Modell, das wir im Kopf haben und das uns dahingehend beeinflusst, wie wir bestimmte Dinge wahrnehmen oder wie wir Entscheidungen treffen. So gesehen spielt das Mindset die wohl entscheidenste Rolle überhaupt. Unsere inneren Überzeugungen wirken sich auf all unser Tun aus. Henry Ford sagte dereinst „Ob du denkst, du kannst es, oder du kannst es nicht: Du wirst auf jeden Fall recht behalten“ und meinte damit, dass unser Denken wesentlichen Einfluss darauf hat, wie wir Realität gestalten. Niemand kann die Zukunft voraussagen, aber wir können sie gestalten.

Wie hat sich Führung in den vergangenen Jahr(zehnt)en verändert und hat sich damit auch die Aufgabe von Führung geändert? Wir sehen aktuell sehr viele Entwicklungen, die die Arbeitswelt beeinflussen: Homeoffice, Remote Work, flexible Arbeitszeitmodelle und -strukturen. Auch Diversität am Arbeitsplatz. Alles wird komplexer, die Geschwindigkeiten ändern sich. Wir haben Daten in Echtzeit zur Verfügung, was dazu führt, dass wir auch in Echtzeit entscheiden müssen. Die Fehlertoleranz wird künftig zunehmen, etwas, was viele erst lernen müssen. Es braucht künftig mehr Bereitschaft zum Risiko, zum Experimentieren und aus Fehlern zu lernen. Damit ändert sich natürlich auch das Führungsverhalten. Führung bedeutet künftig, immer weniger Antworten zu geben, sondern die richtigen Fragen zu stellen. Als Führungskraft ist man nicht derjenige, der alles weiß und entscheidet, sondern der Katalysator im Unternehmen. Führen heißt delegieren. Offenheit und Transparenz sind die Themen der Zukunft.

Die Welt unterliegt vielen Veränderungen, Alltag und Arbeitswelt werden immer noch schneller. Glauben Sie, dass irgendwann ein Punkt erreicht ist, an dem der Mensch nicht mehr mitkommt? Das glaube ich nicht. Schauen wir in der Geschichte zurück, hat es immer enorme Umwälzungen gegeben und die Menschheit hat sich immer angepasst. Und sie wird sich immer anpassen. Wir werden uns auch an die zunehmende Geschwindigkeit gewöhnen. Ich habe absolut keine Bedenken, dass die Menschen mit diesen Entwicklungen nicht mehr mitkommen, wenngleich es immer welche geben wird, die schneller in der Lage sind, sich anzupassen als andere.

Sie haben in Ihrem Buch „Das High Performance Mindset“ elf Leadership-Lektionen definiert, die unter anderem aus Ihrer Teilnahme am Race Across America resultieren. Welches war Ihre überraschendste Erkenntnis? Ich habe mich körperlich und mental sehr gut vorbereitet, was mir allerdings erst beim Rennen richtig bewusst geworden ist, war, wie unglaublich wichtig es ist, warum man etwas macht. Man würde wohl am ehesten Purpose dazu sagen. Wenn man während des Rennens immer wieder an seine körperlichen Grenzen stößt, fragt man sich, warum man das alles macht. Wenn man darauf keine Antwort hat, gibt man auf. Mein Antrieb war das Charityprojekt zur Ausrottung der Kinderlähmung und wann immer es schwierig geworden ist, habe ich mir in Erinnerung gerufen, was meine Aufgabe ist: Ich muss ins Ziel kommen, um möglichst viele Spenden zu sammeln. Ich habe in meinem Buch unter anderem Viktor Frankl zitiert, der sich an Friedrich Nietzsche orientiert hat: „Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie.“ Das heißt, wenn man weiß, warum man etwas macht, hält man ziemlich viel aus. Dazu gibt es auch spannende Studien, die zeigen, dass Menschen, die einen Zweck in ihrem Tun sehen, der über die eigene Person oder das eigene Leben hinausgeht, weit mehr in der Lage sind zu tun, als Menschen, die etwas nur für sich selbst tun. Das gilt für Spitzen- oder Extremsportler genauso wie für Unternehmer: Wenn man etwas für einen übergeordneten Zweck tut, lassen sich viel mehr Reserven mobilisieren. Das sieht man auch an der aktuellen Generation Z, für die Purpose im Moment der Begriff der Stunde ist. Ich sehe darin auch eine Neudefinition der Leistungsorientierung, nämlich, dass die Generation gerne bereit ist, viel zu geben und viel zu leisten, solange sie den Sinn und Zweck hinter ihrem Tun sieht.

Interview: Marina Bernardi

Fotos: Marian Kröll
 

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