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Zukunft

Neue Zeitrechnung?

1.7.2022

Es ist kein Naturgesetz, dass die wöchentliche Normalarbeitszeit, gemessen von Montag 0:00 Uhr bis Sonntag 24:00 Uhr, in Österreich 40 Stunden beträgt. Noch im 19. Jahrhundert war die 70-Stunden-Woche keine Seltenheit. Die 40-Stunden-Woche bzw. je nach Branche teils auch 38,5-Stunden-Woche gibt es hierzulande seit 1975. Die Forderung nach einer weiteren Verkürzung der Arbeitszeit auf 35 Stunden wurde bereits 1987 erstmalig erhoben. Bis 1859 – damals wurden die Sonntagsruhe und der 11-Stunden-Tag eingeführt – waren Arbeitnehmer im Hinblick auf ihre Arbeitszeit völlig vom Arbeitgeber abhängig, der diese nach Gutdünken festlegen konnte. Das ist heute natürlich nicht mehr so. Ganz im Gegenteil. Es sieht so aus, als dürfte sich der Arbeitsmarkt zu einem Arbeitnehmermarkt wandeln, in dem die Arbeitskräftenachfrage das Angebot übersteigt.

Steigende Beschäftigung sorgt aber nicht für Entspannung am Arbeitsmarkt, weil zugleich noch ein anderes Phänomen auftritt, wie AMS-Tirol-Landesgeschäftsführer Alfred Lercher erklärt: „Gleichzeitig sehen wir in der Statistik in allen Altersgruppen einen eindeutigen Trend zu einer Verringerung der Arbeitszeit. Es arbeiten also immer mehr Menschen, diese jedoch in einem geringeren Zeitausmaß.” Insofern ist es für ihn auch keine Anomalie, dass vermehrt über die Viertagewoche geredet wird, sondern eine natürliche und logische gesellschaftliche Entwicklung. „Die Viertagewoche ist ein Arbeitszeitmodell, bei dem die Beschäftigten ihre üblicherweise auf fünf Tage verteilte Arbeitszeit in vier Arbeitstagen erbringen, bei gleichem Gehalt. Man arbeitet also an vier Tagen etwas länger – beispielsweise zehn statt acht Stunden – und hat dafür drei statt zwei Tage ‚frei‘“, erklärt Julia Brandl, die eine Professur für Personalpolitik an der Fakultät für Betriebswirtschaftslehre der Universität Innsbruck innehat. Die Wirtschaftswissenschaftlerin bestätigt Lerchers Aussage, dass ein wesentlicher Grund dafür, dass die Arbeitszeitdebatte jetzt aufkomme, der viel diskutierte Fachkräftemangel ist. Was die Auswirkungen der breiten Einführung einer Viertagewoche betrifft, müsse man allerdings differenzieren, meint Lercher: „Sprechen wir von einer Arbeitszeitverkürzung bei vollem Gehalt oder sprechen wir von einer Verdichtung der Arbeitszeit auf weniger Tage?“ Lercher glaubt, dass es jedenfalls Änderungen geben wird, „ganz einfach, um die große Nachfrage der Unternehmen nach Arbeitskräften befriedigen zu können.“ Der AMS-Landesgeschäftsführer gibt zu bedenken, dass „die Einführung einer Viertagewoche zur Folge haben könnte, dass es besonders im Dienstleistungssektor zu einer Verminderung des Angebots kommt“. Das zeichnet sich bereits auch ohne Viertagewoche vor allem in der Gastronomie ab. Dort lässt sich eine Zunahme der Ruhetage beobachten, die auf chronischen Personalmangel zurückzuführen ist.

Die Regeneration der Arbeitskraft

„Die Geschichte der Arbeitszeit ist eng mit der Industrialisierung verknüpft. Die Festlegung fixer Arbeitszeiten war nicht der Großzügigkeit der arbeitgebenden Unternehmen geschuldet, sondern der Erkenntnis, dass Arbeitskraft regeneriert werden muss. Die Arbeitskämpfe des 19. Jahrhunderts waren wesentlich auch Kämpfe um Freizeit und um eine geregelte Arbeitszeit“, sagt Andreas Oberprantacher, der als Philosoph seine Gedankenwerkstatt als Professor für Praktische Philosophie an der Universität Innsbruck hat.

Unter Arbeit wird nach wie vor hauptsächlich Erwerbsarbeit verstanden, die in Vollzeit vor allem von Männern geleistet wurde und wird. Oberprantacher weist auf die nach wie vor bestehende Heteronormativität der Verhältnisse hin: „Die unentgeltlich geleistete Arbeit der unzähligen Frauen, die für die Hausarbeit zuständig waren, ist überhaupt nicht anerkannt worden.“ Ein Umstand, der sich bis heute nicht wesentlich geändert hat. Notwendige Dinge wie Hausarbeit und zunehmend auch Angehörigenpflege bleiben überwiegend Frauensache und werden nicht ausreichend honoriert. Hausarbeit und Care sind gegenüber der Erwerbsarbeit, für die Arbeitszeitregelungen exklusiv gelten, offenbar Tätigkeiten zweiter Klasse, notwendig und doch selbstverständlich.

Great Resignation

Anders als befürchtet geht dem modernen Menschen seine Arbeit durch den technologischen Fortschritt nicht aus. Zurücklehnen und die Früchte der kontinuierlichen Produktivitätsfortschritte in Form umgekehrt proportional abnehmender Wochenarbeitszeit zu ernten, ist weiterhin über weiteste gesellschaftliche Strecken eine Denkunmöglichkeit. Dieser systemimmanenten Logik zufolge präsentieren sich manche Dinge als Sachzwänge, die aus einer Betrachtung von außerhalb des Systems vielleicht keineswegs so wirken würden. „Arbeitsverhältnisse müssen so gestaltet sein, dass das Leben für alle lebenswerter wird. Der Kampf um bessere Arbeitsbedingungen muss heute auf mehreren gesellschaftlichen Ebenen geführt werden, weil er alle betrifft“, argumentiert Andreas Oberprantacher.

An die Stelle des Klassenkampfes ist heute ein verbreitetes Unbehagen mit dem Modell „Hamsterrad” getreten. Anders ist es kaum zu erklären, dass mit Anti-Work eine Haltung global salonfähig geworden ist, die geregelte Erwerbsarbeit aufgrund der vorherrschenden Arbeitsumstände ablehnt und für eine grundlegend neue Arbeitsethik eintritt. Eine damit in Verbindung stehende Kündigungswelle, wie sie die USA erfasst hat, gibt es in Österreich nicht, auch wenn die Wechselbereitschaft am heimischen Arbeitsmarkt historisch hoch sein dürfte, glaubt man dem Arbeitsklima-Index von SORA und IFES. Das ist noch nicht die Great Resignation wie in den Vereinigten Staaten, aber jedenfalls ein starkes Signal, das bei der Diskussion um eine Viertagewoche mitbedacht werden sollte. „In den Medien hören wir derzeit immer wieder, dass besonders junge Menschen kein Interesse mehr hätten, Vollzeit zu arbeiten, da diese in eine Erbengeneration fallen würden und das nicht nötig oder aber resigniert hätten, weil ihnen bewusst geworden sei, dass mit Arbeit ein Eigenheim finanziell nicht erreichbar ist. Es wird sicherlich Menschen geben, bei denen das zutrifft, aber eine pauschale Aussage darüber kann man nicht treffen. Wichtiger ist es, dass man von der Arbeit die Kosten des täglichen Lebens bestreiten kann und das besonders in Tirol, wo die Lebenshaltungskosten hoch sind“, vertritt Lercher einen pragmatischen Standpunkt. „Es geht so gesehen vor allem darum, die Realisierung verschiedener Lebensmodelle zu ermöglichen. Arbeitszeitverkürzung ist für viele ein großes Thema und das Gehalt ist ein wichtiger Baustein bei der Realisierung, aber nicht der einzige.“

Befürworter der Viertagewoche würden häufig argumentieren, dass man so der Arbeitslosigkeit entgegenwirken könne, weil sich die Arbeit auf mehr Köpfe verteile. „Grundsätzlich klingt das plausibel, einige Studien belegen jedoch das Gegenteil. Auch Wifo und IHS sehen solche Argumente kritisch“, sagt Lercher. Während Diskussionen um die Arbeitszeit üblich sind und in einer historischen Kontinuität stehen, sorgt „Zeit“ als ausschlaggebende Maßzahl für die Entlohnung der Erwerbsarbeit kaum für Debatten. „Die Stunden als Bemessungsgrundlage für die Vergütung von Arbeit sind in unserem Beschäftigungssystem umfassend verankert“, sagt Julia Brandl. Sie sind elementarer Bestandteil von Arbeitsverträgen und Grundlage für die Planung der Produktionsabläufe oder Öffnungszeiten. Der AMS-Landesgeschäftsführer weiß sowohl aus persönlicher Erfahrung als auch aus der Forschung, dass „die 10. Stunde am Tag oder die 40. Stunde in der Woche nicht mehr gleichwertig sein kann wie die Stunden, die man erholt und mit frischer Energie investiert.“ In der Pandemie habe sich zudem gezeigt, wie wichtig „vermeintlich unproduktive Arbeitszeiten wie die Kaffeepause mit den Kolleginnen und Kollegen für das zwischenmenschliche Gefüge und die Arbeitsmotivation sein können. Eine klare Abgrenzung von produktiver und nicht produktiver Arbeitszeit ist daher kaum möglich.“ Alfred Lercher argumentiert weiter: „Ich glaube, dass 40 Stunden die Woche nicht mehr zeitgemäß sind und dieselbe Wertschöpfung auch mit weniger Stunden möglich ist. Durch kürzere Zeiten mit einem besseren Fokus könnte man das erreichen. So gesehen wäre eine Arbeitszeitreduktion vor allem eine Investition in die Leistungsfähigkeit und die Regeneration der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.“

Text: Marian Kröll

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