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Zukunft

Weiterentwickeln

21.10.2025

Notfallmedizin ist eine komplexe Materie. Kaum ein anderes Gebiet in der Medizin ist derart interdisziplinär. Als Querschnittsmaterie braucht es in der Notfallmedizin Kenntnisse verschiedenster Fachbereiche von unfallchirurgischem bis internistischem Verständnis. Unterschiedliche Einsatzorganisationen und Institutionen treffen aufeinander. Jede davon leistet für sich gute Arbeit, die Vernetzung funktioniert jedoch nur mäßig. Auch die aktuelle Situation in der notärztlichen Aus- und Fortbildung ist vielfach alles andere als ideal. Selbst wenn die Voraussetzungen für die Notarztausbildung in Österreich verschärft wurden, so kann fast jeder Arzt unabhängig von seinem Fachgebiet eine solche absolvieren. Eine laufende Fortbildung nach Erlangung des Notarztdiploms ist anschließend nur in sehr begrenztem Ausmaß erforderlich, zudem fehlt vielerorts eine strukturierte Qualitätssicherung. Doch die Medizin ändert sich, die Notfallmedizin ganz besonders. Behandlungsmethoden werden invasiver und komplexer, die Diagnosemöglichkeiten am Einsatzort steigen kontinuierlich, auch innerklinisch im Schockraum nehmen die Anforderungen an Notfallmediziner schnell zu. Entwicklungsarbeit braucht es ebenso auf Seiten der Sanitäter*innen. Im europäischen Vergleich ist die Ausbildung von Sanitätern hierzulande deutlich kürzer, so gibt es für den Sanitäter keinen Berufsschutz. Es ist einiges zu tun.

Hinzu kommt eine Vielfalt an unterschiedlichen Einsatzorganisationen, Institutionen und Einrichtungen. Jede davon arbeitet für sich, Standards sind uneinheitlich, es fehlt an einer lebendigen Feedback- und Fehlerkultur. Statt voneinander zu lernen, entstehen Inseln: Ausbildungsstätten entwickeln eigene Konzepte, evaluieren sich kaum gegenseitig und bleiben so im eigenen System gefangen. Gerade in einem hochsensiblen Bereich wie der Notfallmedizin hat das Folgen: Nachwuchsmediziner*innen erleben eine Ausbildung, die eher formal denn praxisorientiert wirkt, und wichtige Kompetenzen, die im Ernstfall Leben retten können, werden in der Folge unzureichend trainiert. Fehler werden im Alltag zu selten offen angesprochen, dabei kann gerade eine konstruktive Fehlerkultur dazu beitragen, zu lernen und sich weiterzuentwickeln. Fehlendes Feedback führt dazu, dass im Alltag Unsicherheiten bleiben. „Die Notfallmedizin ist ein wenig der Wilde Westen der Medizin“, beschreibt es Jakob Gruber. Er ist Assistenzarzt für Anästhesie und Intensivmedizin und aktuell Vorsitzender der Interessengemeinschaft Notfallmedizin Innsbruck.

Die IGNI ist keine staatliche Institution und kein verpflichtendes Programm, sondern eine freiwillige, private Initiative, die vor rund zehn Jahren von engagierten Sanitäter*innen und Medizinstudent*innen ins Leben gerufen wurde und sich das Ziel gesetzt hat, die prä- und innerklinische Notfallmedizin weiterzuentwickeln und deren Professionalisierung voranzutreiben. Und es ist gerade dieses freiwillige Engagement, das den Wert von IGNI ausmacht: Der Verein ist frei von institutionellen Zwängen, bürokratischen Hürden und formalen Hierarchien. Den Mitgliedern geht es ausschließlich darum, die Patient*innensicherheit sowie notfallmedizinische Versorgungsqualität nachhaltig zu verbessern. Dazu schafft IGNI Räume, in denen sich Interessierte unabhängig von Dienststellen und Trägern begegnen, Erfahrungen austauschen und interdisziplinär voneinander lernen können. Statt jede Institution für sich entwickeln die Mitglieder der IGNI gemeinsame, übergreifende Standards und teilen Best Practices. Etwas, das in der bisherigen Ausbildungs- und Weiterbildungslandschaft und im klinischen Umfeld oft fehlt. „Unser Ansatz ist, Wissen und Erfahrungen, die bereits vorhanden sind, miteinander zu verknüpfen und Synergien zu nutzen, um davon in unserem beruflichen Alltag zu profitieren“, so Gruber. Dafür bietet die IGNI unter anderem Workshops und Vorträge zu unterschiedlichen Themenfeldern an sowie regelmäßige Trainings, bei denen Menschen zusammenkommen, die im beruflichen Alltag in verschiedensten Situationen aufeinandertreffen könnten. Teams in der Notfallmedizin müssen oft adhoc zusammengestellt werden. „Die IGNI versteht sich als Schnittstelle zwischen den unterschiedlichsten Disziplinen. Normalerweise arbeitet jeder für sich, dabei ist die Notfallmedizin ein großes Ganzes. Der Patient betrifft alle gleichermaßen, deshalb ist eine Zusammenarbeit so wichtig. Die Medizin ist stets dieselbe, die Sprache jedoch oft eine andere“, sagt Lisa Kohler. Sie ist Medizinstudentin im letzten Jahr, Rettungssanitäterin und ebenfalls IGNI-Vorstandsmitglied. „Bei uns ist es völlig egal, aus welcher Organisation die Menschen kommen und welche Position sie dort innehaben. Wir stellen die nötige Infrastruktur zur Verfügung und haben es über die Zeit geschafft, dass Sanitäter*innen mit Ärzt*innen und Student*innen mit Pfleger*innen regelhaft gemeinsam trainieren – und das auf Augenhöhe. Es gibt keine Hierarchien und wir versuchen, dass bei jedem Training ein Vertreter jeder Berufsgruppe dabei ist, was in den Organisationen selbst oft schwierig ist“, ergänzt Andreas Zoller, Assistenzarzt für Innere Medizin – und langjähriges Vorstandsmitglied. Letztlich ist es in der Medizin wie im Sport: Um besser zu werden, braucht es regelmäßiges Training. „Es geht darum, Routinen zu entwickeln, dass man auch in Situationen, die man selten erlebt, seine beste Leistung abrufen kann“, sagt Zoller.

Besonders wichtig ist dabei eine gelebte Feedback- und Fehlerkultur. Während Fehler andernorts oft tabuisiert oder nur hinter verschlossener Tür diskutiert werden, versteht die IGNI diese als wertvolle Lernchance. Durch eine offene, konstruktive Auseinandersetzung entstehen neue Impulse, die mit ins Training einfließen. Das schafft Sicherheit im Handeln, stärkt das Selbstvertrauen und verbessert am Ende die Patient*innenversorgung. „Bei uns ist es ausdrücklich erwünscht, Fehler zu machen“, erklärt Jakob Gruber. „Wir versuchen, bei jedem Training an unser persönliches Limit zu gehen und damit unsere eigenen Grenzen auszuloten. Unterm Strich kann nichts Besseres passieren, als Fehler im geschützten Rahmen zu machen, um daraus zu lernen. Notfallmedizin ist ein Bereich, in dem man zeitweise extrem unter Druck steht, in dem schnelle Entscheidungen getroffen werden müssen, die potenziell eine große Tragweite haben. Dabei profitiert man von Routinen, Checklisten und Strategien, wie man persönlich mit Stress umgeht. Und auch wie man im Team kommuniziert.“

Im medizinischen Alltag finden zudem kaum Feed-
backrunden statt. Während im Sport – um den Vergleich noch einmal heranzuziehen – Spielanalysen zum Standard gehören, gibt es diese in der Medizin kaum. Bei der IGNI wird jedes Training nachbesprochen. Offen und ehrlich. Lisa Kohler: „Bei uns gibt es keine Hie-
rarchien. Ein Sanitäter kann einem Notarzt genauso Vorschläge und Ideen unterbreiten wie umgekehrt. Es geht um den Erfahrungsaustausch und manchmal ist ein anderer Blickwinkel nicht verkehrt. Im Alltag kommt das Feedback meist von oben nach unten. Damit bleiben viele Möglichkeiten ungenutzt.“ Die IGNI versucht dort Fortbildungsangebote zu schaffen, wo die Ausbildung der unterschiedlichen Organisationen endet, und damit Gutes noch besser zu machen. „Gut“ sollte in der Medizin nicht der Maßstab sein, findet Andreas Zoller: „Es geht um Entwicklung, interdisziplinäre Zusammenarbeit, um den Aufbau solider Teamstrukturen und darum, Hierarchien zu überdenken. Grundsätzlich gut zu sein, ist nicht, was wir wollen. Wir möchten bestmögliche Leistung erreichen. Das geht nur mit regelmäßigem Training.“ Mittlerweile zählt IGNI über 250 Mitglieder und auch wenn es eine von jungen Menschen getragene Bewegung ist, bildet der Verein ein breites Spektrum von Menschen aus den unterschiedlichsten Positionen ab. Und der Verein wächst weiter – nach wie vor mit ausschließlich Freiwilligen, die unentgeltlich und in ihrer Freizeit daran arbeiten, ein System, das für uns alle essentiell ist, weiterzuentwickeln und besser zu machen.

Ein großes Danke

Generell spielt der Freiwilligenbereich in Österreich stärker als in vielen vergleichbaren Ländern eine zentrale Rolle im Gesundheits- und Sozialwesen. Die Gründe, warum sich Menschen ehrenamtlich und freiwillig engagieren, sind meist eine Mischung aus altruistischen, persönlichen und sozialen Motiven. Es ist der Wunsch, anderen Menschen zu helfen, aber auch jener nach persönlicher Entwicklung. Das Österreichische Gesundheitssystem wäre nicht, was es ist, wäre die intrinsische Motivation der dort Tätigen nicht derart hoch.  Die Menschen hinter der IGNI leisten einen wertvollen Beitrag hin zu einem neuen Selbstverständnis in der Notfallmedizin – hin zu mehr Eigeninitiative, Vernetzung und kollegialer Unterstützung. In einer Zeit, in der die Anforderungen an die Notfallmedizin stetig steigen, ist die IGNI ein entscheidender Baustein: Sie füllt Lücken, die andere Strukturen bislang offenlassen, und beweist, dass die Gemeinschaft selbst den größten Beitrag zur Zukunftsfähigkeit der Disziplin leisten kann. Um das Gesundheitssystem im Allgemeinen und die Notfallmedizin im Speziellen voranzubringen, braucht es Menschen, die Verantwortung übernehmen, Missstände offen ansprechen und die Aus- und Weiterbildung aktiv verbessern wollen. Die IGNI ist ein Beispiel dafür, wie das gelingen kann, und die Botschaft ist klar: Eine gute notfallmedizinische Ausbildung darf kein Zufall sein. Solche Initiativen verdienen definitiv mehr Sichtbarkeit und all unseren Respekt.
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IGNI

Im Herbst 2014 haben sich in der Notfallmedizin tätige und engagierte Sanitäter*innen und Medizinstudent*innen zusammengefunden, um über Möglichkeiten zur besseren Vernetzung und Fortbildung in Innsbruck zu sprechen. Man kannte sich zum Teil seit vielen Jahren aus dem Innsbrucker Rettungsdienst, es bestanden Beziehungen in die Einsatzorganisationen hinein und darüber hinaus, außerhalb traf man sich bei Fortbildungen, die es in Tirol nicht gab. Die Gemeinschaft wuchs, sodass am 31. Oktober 2016 offiziell ein Verein gegründet wurde. Damals umfasste die Interessengemeinschaft Notfallmedizin Innsbruck (IGNI) bereits über 30 Personen. Es wurden Partnerschaftsabkommen mit allen Innsbrucker Einsatzorganisationen geschlossen, auf deren Verbindungen ein regelmäßiger Austausch stattfindet. Das Angebot an Vorträgen, Workshops und anderen Veranstaltungen wuchs stetig, regelmäßig finden Trainings statt, bei denen die Mitglieder zusammenkommen, um gemeinsam ungezwungen zu üben und an ihren Skills zu arbeiten. Aktuell zählt der Verein über 250 Mitglieder aus den unterschiedlichsten (Fach-)Bereichen und Erfahrungslevels, vom Medizinstudenten bis zum Oberarzt. Einige davon sind seit dem Start weg dabei und mit dem Verein „mitgewachsen“.  Sie sind selbst in der prä- und innerklinischen Notfallmedizin tätig und wollen Mitglied werden, Sie wollen den Verein finanziell, materiell oder mit Ihrer Expertise unterstützen oder sich weiter informieren? Einfach reinklicken unter www.igni.at.
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Text: Marina Bernardi

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